Eines Tages, als sie im Wald spazieren ging, um sich von ihrem Kummer etwas abzulenken, traf sie eine seltsame alte Frau. Diese war sonderbar gekleidet – wie aus einer früheren Zeit stammend. Die alte Frau begrüßte sie mit freundlicher Stimme. Es schien fast so, als ob sie die junge Frau kannte, so herzlich warm und teilnahmsvoll sah sie diese dabei an. Zögernd und etwas irritiert grüßte die junge Frau zurück.
„Warum siehst du denn so traurig aus?“ fragte die Alte. „Erzähle mir doch deinen Kummer, vielleicht kann ich dir helfen.“
„Du kannst mir nicht helfen, niemand kann mir helfen!“ brach aus der jungen Frau heraus. „Ach, wenn ich doch dieses heiße Herz nicht mehr hätte!“
„Weißt du, was du dir da wünscht?“ fragte da die sonderbare alte Frau mahnend. „Du würdest keine Trauer und keinen Schmerz mehr empfinden, aber auch keine Freude und kein Glücksgefühl mehr.“
„Welche Freude, und welches Glücksgefühl?“ stieß die junge Frau geringschätzig und bitter hervor. „Warum sollte ich das jemals wieder empfinden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mein armseliges Herz hat mir immer nur Kummer bereitet. Ich möchte endlich wieder Ruhe und Frieden in mir spüren.“
„Wenn du willst, werde ich dir deinen Wunsch erfüllen“, sprach die seltsame Alte. „Aber bedenke es wohl: Dein Herz wird immer nur in ruhigem Gleichklang schlagen, es sind dir keine tiefen Gefühle mehr möglich.“
„Dann erfülle mir meinen Wunsch, bitte! Je eher ich von meinem heißen Herzen erlöst werde, desto besser ist es für mich.“ Ungeduldig und hoffnungsfroh sah die junge Frau die Alte an.
Diese betrachtete sie gütig und sagte: „Geh nur heim, du wirst dann schon sehen, ob ich dir helfen konnte.“ Sie winkte der jungen Frau zu, machte sich wieder auf den Weg und verschwand nach kurzer Zeit hinter der nächsten Wegbiegung.
Langsam und nachdenklich ging die junge Frau nach Hause. Es schien immer noch alles wie sonst zu sein. Ihr Herz schlug in der Brust wie vorher. Wenigstens konnte sie keinen Unterschied feststellen.
Als sie das Dorf erreichte, begegnete sie dem Mann, der diese Herzensqualen bei ihr verursacht hatte. Aber was war das? Sie konnte ihn ruhig ansehen und gleichmütig an ihm vorüber gehen, ohne dass ihr Herz schneller und lauter klopfte und ohne dass es sich vor Schmerz zusammenkrampfte wie sonst. Sie empfand nur noch ein leichtes kleines Bedauern.
Staunend stellte sie fest, dass ihr sonst so heißes Herz ruhig und gleichmäßig in ihrer Brust schlug. Nichts tat mehr weh. Wie schön. Eine leise Freude stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass diese sonderbare alte Frau wirklich ihr Versprechen wahr gemacht hatte.
Auch in den nächsten Tagen schlug ihr Herz gleichmäßig und ruhig, und die junge Frau war froh darüber. Es war so schön, mit freiem unbelastetem Herzen durchs Leben gehen zu können. Große Freude konnte sie ja nicht mehr empfinden. Aber das machte ihr nichts aus. „Es ist gut so“, dachte sie oft, „endlich bin ich von meinem heißen Herzen erlöst.“
Wenn sie ein verliebtes Paar sah, das glücklich Zärtlichkeiten austauschte, tat ihr das nicht mehr weh. Sie sah sogar etwas verständnislos auf die beiden, konnte ihre Gefühle nicht nachempfinden. Sie war ja auch noch nie wiedergeliebt worden, hatte Liebe nur als etwas Schmerzvolles erfahren. Da war es doch viel schöner, mit ruhiger Gleichmut und Gelassenheit den ausgelassenen Kapriolen der Liebespaare zusehen zu können.
Nur ab und zu, wenn sie Kindern, versunken in ihrem Spiel, zusah, wie lebensfroh und glücklich sie dabei waren, zog leise Wehmut in ihr Herz. Denn dieses Gefühl kannte sie: das Glück der unbefangenen Kindheit, die tiefe Versunkenheit in ein Spiel und die reine Freude an den einfachsten Dingen. Diese Gefühle würde sie nie wieder erleben können. Denn sie würde immer nur ruhig und gleichmütig allem gegenüberstehen.
Nach und nach kamen ihr Zweifel, ob ihre Entscheidung so gut und richtig war. Ja, sicher, es war schön, nicht mehr diese jämmerlichen Herzschmerzen ertragen zu müssen. Aber sie gab damit gleichzeitig auch die tiefe Freude an all dem auf, was es im Leben gab. Das kam ihr erst jetzt richtig zum Bewusstsein.
Was sollte sie nur tun? Jetzt war es zu spät. Sie hatte die alte Frau darum gebeten, und ihr Wunsch war erfüllt worden. In den Nächten konnte sie jetzt nicht mehr richtig schlafen, weil sie ständig daran dachte, welchen riesengroßen Fehler sie gemacht hatte. Und tagsüber ging es ihr auch nicht mehr aus dem Sinn.
Da ging sie eines Tages wieder im Wald spazieren, um auf andere Gedanken zu kommen. Tief versunken in ihre Überlegungen merkte sie nicht, wie plötzlich wieder die alte Frau vor ihr stand. Erst als diese sie ansprach, sah sie auf. „Was hast du denn für tiefschürfende Gedanken, dass du nicht einmal siehst, wer des Weges kommt?“ fragte die sonderbare Alte lächelnd.
„Ach, weißt du“, sagte da die junge Frau mit leiser Trauer in der Stimme, „ich bereue inzwischen, worum ich dich gebeten habe. Ich habe mich um einige glückliche Momente meines Lebens gebracht. Auch wenn mein Herz oft sehr weh getan hat und heiß und wund in meiner Brust lag, so hat es mir doch auch manchmal Freude gebracht. Und diese Freude kann ich nicht mehr erleben, weil ich keine tiefen Gefühle mehr empfinden kann. Was soll ich nur tun?“
Die alte Frau lächelte fein. „Ich wusste, dass du nach einiger Zeit einsehen würdest, dass es wichtig ist, Gefühle zu haben. Auch wenn dir dein Herz manchmal weh tut – du kannst deinen Gefühlen nicht entfliehen. Du musst sie aushalten und an ihnen wachsen. Dann wirst du auch wieder Freude und tiefes Glück empfinden können. Ich weiß, dass du ein weiches Herz hast. Das ist manchmal schwer für dich, denn du kannst dadurch tief verletzt werden. Aber du kannst dadurch auch Gefühle viel tiefer und inniger empfinden als andere, die ihr Herz verhärtet haben.“
„Ich weiß“, sagte die junge Frau traurig, „aber jetzt ist es zu spät. Wie gerne hätte ich mein heißes Herz wieder zurück. Ich würde die tiefen Schmerzen ertragen, weil ich weiß, dass ich auch irgendwann wieder Glück empfinden kann.“
Die Alte kam auf sie zu und streichelte ihre Wange. „Du bekommst dein heißes Herz wieder zurück, so, wie du es dir wünscht. Ich habe es dir nur genommen, um dir zu zeigen, wie wichtig es ist, Gefühle empfinden zu können. Leb wohl, und gehe sorgsam mit deinem Herzen um ....... und auch mit den Herzen der anderen. Denn jeder von uns hat so ein heißes Herz, auch wenn er es im Laufe seines Lebens gegen andere verhärtet hat.“ Sprach`s – und verschwand.
Die junge Frau wusste im ersten Moment gar nicht, wie ihr geschah. Sie glaubte, gerade geträumt zu haben und ging wieder nach Hause. Doch was war das? Plötzlich hörte sie die Vögel in den Bäumen melodiöser zwitschern und sah die Sonne strahlender am Himmel stehen. Die Blumen am Wegrand schienen viel bunter zu sein, und das Blau des Himmels erschien ihr leuchtender denn je. Ihr Herz begann stürmisch zu klopfen und sie wollte jauchzen, so froh wurde ihr ums Herz. Da wusste sie, dass sie nicht geträumt hatte.
Als sie das Dorf erreichte, begegnete ihr der Mann, der ihr, ohne es zu wissen, Herzensqualen verursacht hatte. Er sah erstaunt auf die junge Frau, die so froh und heiter des Weges ging. Die junge Frau grüßte ihn freundlich, denn er trug ja keine Schuld an ihrem Herzweh. Er hatte ja nichts von ihrer heimlichen heißen Liebe zu ihm gewusst. Wohl klopfte ihr Herz immer noch unruhig und ein bisschen weh in ihrer Brust, aber das war nichts im Vergleich zu der Freude, die sie überflutete, weil sie wusste, dass sie wieder alle Gefühle empfinden konnte, die es gab: Trauer, Wehmut, Schmerz, aber auch Freude, Glück und ....... Liebe.
Und niemals wieder vergaß sie die Worte der alten Frau, die ihr gesagt hatte: „Gehe sorgsam mit deinem Herzen um ....... und auch mit den Herzen der anderen. Denn jeder von uns hat so ein heißes Herz, auch wenn er es im Laufe seines Lebens gegen andere verhärtet hat ...“
© Irmgard Mailänder
(Anmerkung: Meine lieben "alten" Bloggerkolleginnen und -kollegen kennen ja dieses Märchen sicher schon von meinem alten Blog. Aber ich habe es wieder hervorgeholt, weil mich ein Gespräch, das ich heute führte, daran erinnerte. Vielleicht bringt es Menschen, die in dieser Vorweihnachtszeit besonders ihre Einsamkeit spüren, etwas Trost. ....... Dieses Märchen schrieb ich zu einer Zeit, in der es selbst dunkel um mich war. Märchen sind einfach und doch kraftvoll in ihrer Symbolik. Sie haben mich immer schon fasziniert. Daher fand ich diese Form des Schreibens für mich. "Das kalte Herz" von Wilhelm Hauff mag ich beim Schreiben im Hinterkopf gehabt haben. Das wurde mir jedoch erst durch Reaktionen einiger Leser bewusst. Die Symbolik der Märchen ist jedoch universell und taucht in vielen Geschichten auf)
Liebe Irmgard,
AntwortenLöschenMärchen begleiteten mich schon mein ganzes Leben. Ich lese sie auch heute noch gerne, so wie ich dieses Märchen gerne gelesen habe.
Viele Märchen machen nachdenklich, aus vielen Märchen kann man auch lernen.
Ich wünsche dir und deiner Familie ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Viele Grüße
Traudi
Liebe Traudi,
Löschenvielen Dank für Deinen lieben Kommentar und vielen Dank für Deine guten Wünsche!
Ich hoffe, dass ich vor Weihnachten noch bei Dir vorbeischauen kann.
Ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch wünsche ich auch Dir und Deiner Familie - und allen, die noch hier lesen!
Alles Liebe, Irmgard
wie schön wieder etwas von dir zu lesen, liebe Irmard ;-)
AntwortenLöschenalles Liebe für dich
karl
Lieber Karl,
Löschenschön, einen lieben Kommentar von Dir zu lesen. Liebe Grüße auch an Dich, alles Liebe,
Irmgard
Liebe Irmgard,
AntwortenLöschendiese Geschichte ist wirklich sehr schön.
Liebe Grüsse
Helga
Liebe Helga,
Löschendanke für Deinen lieben Kommentar. Ich freue mich, wieder von Dir hier zu lesen.
Liebe Grüße, Irmgard
Liebe Irmgard,
AntwortenLöschenschoen dieses Maerchen von Dir. Es hat mir Freud gemacht es zu lesen.
Aber jetzt moechte ich Euch schon ein Frohes Weihnachtsfest wuenschen und ein gesundes Jahr 2014.
Alles Gute aus dem heute verregneten Nordwest Arkansa,
Karl-Heinz
Lieber Karl-Heinz,
Löschenes freut mich sehr, wieder von Dir hier bei mir zu lesen, vor allem, weil ich Dich und Deinen Blog in letzter Zeit stark vernachlässigt habe - wie so manchen anderen.
Es freut mir auch, wenn Dir mein Märchen gefiel.
Ich wünsche Dir auch von Herzen ein Frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein gesundes und glückliches Neues Jahr 2014.
Alles Liebe, Irmgard